Hütte, Zimmer oder Wohnung?

TREND Wohnen im Alter

Im Jahr 2080 wird es der Immobilienwirtschaft nach dem Konjunkturtief der „Großen Weltkrise“ wieder recht gut gehen, glaubt Stefan Brauckmann. Wie wir als alte Menschen in dieser Zukunft leben werden, skizziert er in diesem Gastbeitrag. Herkömmliche Krankenhäuser, Alten- und Pflegeeinrichtungen werden wir jedenfalls kaum brauchen.

Die letzten Jahre seines über hundert­jährigen Lebens hatte Lonesome George in einer kleinen Hütte auf der Insel Santa Cruz im Pazifischen Ozean verbracht. Pfleger kümmerten sich intensiv um seine Versorgung. Als er 2012 starb, war er der letzte Vertreter seiner Unterart.

Im Gegensatz zur Pinta-Riesenschildkröte ist ein Aussterben des Menschen 2080 nicht zu befürchten. Durch den ­medizinischen Fortschritt können ­Alterungsprozesse aufgehalten und viele sogenannte Zivilisationskrankheiten eingedämmt werden. Auch im Bereich der technischen Gesundheitsüber­wachung werden neue Standards gesetzt. Wer es sich leisten kann, hat dadurch eine ­Lebenserwartung bei einwandfreier Gesundheit, welche deutlich höher als die einer Schildkröte ist.

Kein biologisches Vergessen

Ein hohes Alter in einer Hütte zu erreichen, wie Lonesome George, ist 2080 eigentlich unmöglich. Einerseits, weil ­Extremwetterereignisse und Folgewirkungen, wie Waldbrände, ­langanhaltende Dürren und Überschwemmungen, signifi­kant zugenommen haben, andererseits, da die hochkomplexe Infrastruktur, welche als Reaktion auf die veränderten Umweltbedingungen erforderlich ist, nur in einigen global vernetzten Ballungs­zentren aufrechterhalten werden kann. Auf diese Weise haben sich die Disparitäten zwischen Stadt und Land, Arm und Reich sowie Alt und Jung verstärkt.

Die deutliche Erhöhung des möglichen Lebensalters in einem relativ kurzen Zeitabschnitt hatte erhebliche Auswirkungen auf die bislang bestehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmen­bedingungen. In vielen Ländern ähnelte die Geschwindigkeit des Gesetzgebungsprozesses dem Wettlauf einer Schildkröte mit Achilles.

Die Folge waren erhebliche Krisen, welche dadurch verlängert wurden, dass das „biologische Vergessen“ nahe­zu ausgeschlossen war, sodass ein Vergeben oder Verzeihen nicht mehr so einfach möglich war wie durch ­frühere Generationen­wechsel. Dieser Effekt sorgte gleichzeitig für eine mangelnde Innova­tionsbereitschaft beziehungs­weise ein längeres Festhalten an „Alther­gebrachtem“ und allgemein aus eigenen Erfahrungswerten begründeter Risiko­aversion. Eine große Wirtschaftskrise war beispielsweise ausgelöst worden, als die Versicherungswirtschaft ihre Altverträge nicht rechtzeitig an die ­gestiegene Lebenserwartung anpassen durfte. Große Versorgungs-, Renten- und Kranken­kassen hatten zunächst ihre Rück­lagen aufgebraucht, bevor sie endgültig insolvent gingen und Nationalstaaten bei ihren hilflosen Rettungsversuchen mitrissen. Durch Not­verkäufe gerieten die Immobilienpreise in allen Segmenten erheblich unter Druck, wobei gleich­zeitig wichtige institutionelle Investoren für dringend erforderliche Neubau- und ­Sanierungsvorhaben verloren gingen. Hierdurch wurde ein Dominoeffekt aus­gelöst, dessen Folgewirkungen noch stark im Jahr 2080 zu spüren sind.

In Zukunft wird es keine Funktionstrennungen in Gebäuden geben – sie werden integriert sein und alles können.

Neue Grenzen, neue Staaten, neue Bauten

Anstelle der finanziell implodierten Nationalstaaten haben sich eigenständige Wirtschaftsregionen beziehungsweise Stadtstaaten gebildet. Neben der ­globalen Standardisierung zur Förderung des Welthandels hat sich auf diese Weise eine Form der Regionalisierung durchgesetzt, welche lokal angepasste Modifikationen und Innovationen begünstigt.

2080 scheint nun das Konjunkturtief der „Großen Weltkrise“, wie es in den Geschichtsbüchern heißt, überwunden. Die Aussichten sind in vielen Branchen nach langen Jahren wieder positiv. Hierzu zählt definitiv auch die Immobilienwirtschaft, deren vorrangige Aufgabe es ist, den gesamten Bestand an die neuesten technischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anforderungen anzupassen.

Da innerhalb der administrativen Grenzen der Stadtstaaten eine große Flächenknappheit besteht, ist bei dem ­anstehenden Strukturwandel die Erreichung einer hohen Flächeneffizienz unumgänglich. Dichter und höher sind die Postulate der Stadtentwicklung.

Die neuen Gebäude werden fast ­ausschließlich durch künstliche Intelligenz geplant. Aufgabe der Projektentwickler ist es, die notwendigen Parameter einzugeben, während die Architekten sich einzig um ästhetische, baukünstlerische Aspekte kümmern. Alle Bauteile werden weitestgehend automatisiert in Fabriken hergestellt und computergesteuert auf der Baustelle zusammengesetzt.

Bauarbeiter werden eigentlich nur noch beschäftigt, da ihre Arbeitskraft günstiger ist als die anpassende Programmierung von Spezialrobotern. Denn die Gehälter und Arbeitsbedingungen im Baugewerbe haben sich weltweit denen der Wanderarbeiter des Jahres 2020 angepasst.

Die „Große Weltkrise“ – ausgelöst durch Versäumnisse der Versicherungen – wird 2080 überwunden sein.
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Algenzucht

Die Neubauten des Jahres 2080 unterscheiden sich völlig von den Gebäuden aus den frühen 2000er-Jahren. Statt einer funktionsgetrennten Stadt- und Gebäudeplanung wird nun dem Leitbild einer integrierten Immobilie gefolgt. Ein Gebäude kann also gleichzeitig der Land- und Energiewirtschaft, dem verarbeitenden Gewerbe, der Lagerhaltung/­Logistik, dem Handel, der Gastronomie und Beherbergung und dem Wohnen dienen. Durch technische Unterstützung ist es in wenigen Minuten möglich, einen Raum in seiner Größe und seiner Einrichtung zu ändern. So kann ein Schlafraum auf einmal in ein Büro oder Lager umgewandelt werden. Was eben noch ein zur Mittagszeit gut besuchtes Restaurant war, kann wenig später als Produktionshalle oder Messestand genutzt werden. Die Mietpreise variieren daher stündlich und sind weniger abhängig von der Nutzungsart als vielmehr von der Tageszeit-aktuellen Flächennachfrage. So finden beispielsweise viele flächenintensivere Veranstaltungen eher in den Nachtstunden statt, wenn der Flächenverbrauch der meisten Menschen auf den Schlafbereich reduziert ist. Nachts ist es auch möglich, auf den Dachflächen mehr Platz zu schaffen, wenn die Obstbäume und Pflanzmodule zusammengeschoben und gestapelt werden können.
Der Anbau beziehungsweise Verzehr von frischem Obst und Gemüse ist jedoch eher die Ausnahme. Mehr Bedeutung für die allgemeine Versorgung haben die Algenzuchten in den ­Fassadenelementen. Unterschiedliche Algenarten sorgen für die Wasser- und Luftaufbereitung, die Energieversorgung und Temperatur­regulation. Gleichzeitig werden die Algen als Grundstoff für die Lebensmittel- und Kunststoffproduktion genutzt.

Ziel einer Immobilienprojektentwicklung 2080 ist es, ein möglichst ­autarkes Gebäude zu schaffen, in dem sich auch energieintensive Betriebe mit der Grundlast versorgen können und eine möglichst lange bis sogar lebenslängliche Ver­weildauer der Konsumenten erreicht wird. Dass ein Gebäude im Normalfall mehr Energie verbraucht, als es produziert, erscheint so abwegig wie die Errichtung einer Immobilie ohne Barriere­freiheit. Hierzu zählt die automatische Zustellung von Paketen über ein rohrpostähnliches System genauso wie die Bereitstellung einer betreiberunabhängigen Sicherheits- und Gesundheits­überwachungsinfrastruktur.

Kein Wohnen im Alter

Seitdem natürliche Todesfälle, zumindest bei Personen im globalen Maßstab mittleren bis oberen Einkommensbereich, eine absolute Ausnahme geworden sind, hat sich auch die Sepulkralkultur fundamental gewandelt. Statt Trauerfeier und Toten­gedenken verabschiedet sich nun eine Person persönlich von den Mitmenschen und lässt sich, in der Hoffnung auf den weiteren technischen Fortschritt, für eine spätere Wiederbelebung konservieren. Durch diese Entwicklung ist eine enorme Nachfrage nach geeigneten Lager­möglichkeiten für Erbgutdaten­banken und die dauerhafte Versorgung dieser Scheintoten entstanden, während Begräbnisplätze und andere Relikte früherer Trauerkultur nicht mehr als notwendig eingeschätzt werden.

Alters­unterschiede werden weniger Relevanz haben, Ein-Personen­Haushalte abnehmen, die Sepulkralkultur wird sich ändern.
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Auch herkömmliche Krankenhäuser, Alten- und Pflegeeinrichtungen werden kaum noch gebraucht. Stattdessen gibt es nun sogenannte Gesundheits­zentren, ­welche zu monopolartig agierenden Konzernen gehören. Wenn die Körper­sensoren über die in jedem Gebäude obligatorische Überwachungsinfrastruktur eine Anomalie melden, wird eine Person automatisch in ein solches Zentrum gebracht. Dort können dann köpereigene „Ersatzteile“ produziert und implantiert oder, wenn beispielsweise die individuellen Finanzmittel aufgebraucht sind, die Abschiedsfeier und anschließende Konservierung organisiert werden.

Personen, die es sich leisten können, regelmäßig ein solches Zentrum aufzusuchen, weisen körperlich und geistig keinen signifikanten Unterschied mehr zu Personen auf, die ein biologisches Alter von 30 Jahren haben. Ganz gleich, ob sie laut Geburtsurkunde beispielsweise im Jahre 1950, davor oder danach geboren worden sind.

Aus diesem Grund sind Altersunterschiede von deutlich geringerer Relevanz als noch in den 2020er-Jahren. Da auch die Reproduktion fast ausschließlich im Labor erfolgt, sind anstelle der klassischen Familie generationenübergreifende, nicht-verwandte Lebensgemeinschaften entstanden. Kaum jemand nutzt einen Raum noch als Ein-Personen-Haushalt, sondern vielmehr als Wohn-, Arbeits- und Freizeitgemeinschaft. Angesichts der im Vergleich zu den Durchschnittseinkommen hohen Immobilienpreise mag diese Form des Zusammenlebens jedoch auch stark ökonomische Gründe haben.

Zukunft ist Vergangenheit?

Für manche Personen ist die Gegenwart in den Weltstädten des Jahres 2080 immer noch mehr als befremdlich. Der Traum einer größt­möglichen Risikoabsicherung vor Naturkatastrophen, Mangel, Krankheit und Tod, ist dem Albtraum einer starken Abhängigkeit von Konzernen gewichen, welche in alle Lebensbereiche hineinwirkt. Aus dieser Skepsis hat sich die Schildkröten­bewegung gebildet, welche sich wie ­Lonesome George einfach vor der Zukunft in einen Schildkrötenpanzer zurück­ziehen möchte

ÜBER DEN AUTOR
Dr. Stefan Brauckmann ist Geschäftsführender Direktor am Moses Mendelssohn Institut (MMI) und Lehr­beauftragter an der Universität Hamburg. Er beschäftigt sich seit 2006 intensiv mit Immobilien. Im Fokus steht dabei die Erforschung von Auswirkungen gesellschaftlichen Wandels auf unter­schiedliche Immo­bilienmärkte. Der Text wurde von der Irebs Immobilien­akademie beim „Ideenpreis Immobilien für eine alternde Gesellschaft“ mit dem ersten Platz ausgezeichnet.