Die Wohnung passt auf
TREND Alternde Gesellschaft
AAL-Systeme können Bestandsimmobilien ohne bauliche Maßnahmen im Nu in altersgerechte Wohnungen verwandeln. Die Branche steckt trotz PropTech-Hype noch in den Kinderschuhen.
Wenn Opa in der Nacht öfters aufs Klo geht, ist das ganz normal. Wenn er alle 10 Minuten in der Toilette herumgeistert, könnte man sich Gedanken machen. Wenn er nicht am WC sitzt, sondern zusammengebrochen am Boden liegt, zählt vielleicht jede Minute, ja Sekunde.
Eskalationsszenarien nennen sich die wurzelartig verzweigten Entscheidungsbäume, die moderner AAL-Software zugrundeliegt. Die Abkürzung steht für Ambient Assisted Living, also Assistenzsysteme für ein möglichst umgebungsunterstütztes, gesundes und unabhängiges Leben. Vor allem Senioren und beeinträchtigten Menschen könnten solche Systeme in der Tat helfen, im Alltag (größtenteils) allein zurechtzukommen. „Unser System entwickeln wir für Menschen, die ins Alter kommen. Damit sie möglichst lange in ihrer eigenen Wohnung bleiben können, statten wir diese mit simplen Komponenten aus und verwandeln sie so in ein altersgerechtes Zuhause“, erzählt Marco Brunner vom deutsch-österreichischen Start-up Auxilio.
Anders als bei vielen Modellprojekten stehe bei Auxilio aber nicht die Technologie im Vordergrund, betont Brunner; Senioren mit einem Tablet zu konfrontieren, hält er für einen Unsinn. Bei Auxilio werden einzelne Komponenten wie intelligente Steckdosen, Infrarot- und Bewegungssensoren oder simple Lichtschalter, die dank Funktechnologie ja überall hingeklebt werden können, miteinander verknüpft. Es braucht kein Smartphone und kein Technologieverständnis. Die Daten aus den Messkomponenten treffen in einer handflächengroßen Zentrale zusammen und werden dort intelligent ausgewertet. Somit ist das System in seiner derzeitigen Version auch offline und trägt keine Daten in irgendwelche Clouds von Großkonzernen. Kommt es zu einer wirklich kritischen Situation, schlägt es über eine SIM-Karte Alarm – etwa in Form von SMS an Angehörige oder Pfleger.
Lernende Systeme
Wann genau das ist, geben die oben erwähnten Eskalationspläne vor. Und hier liegt auch der Knackpunkt. Anfänglich werden alle Marotten des Betroffenen und das Feedback der Angehörigen eingearbeitet („Hat eine schwache Blase, muss oft auf die Toilette“). Somit weiß das System, was „normal“ ist. Umgekehrt gibt es klare Verhaltensmuster, die einen aufhorchen lassen, etwa wenn die Bestecklade tagelang nicht geöffnet wurde, obwohl sie sonst 12 Mal täglich benutzt wurde. Oder: Sollte der alte Mensch drei Mal vergessen, den Herd abzuschalten, ist das aufgrund der extra installierten Abschaltautomatik kein Problem. Vergisst er es aber 20 Mal, weist das beispielsweise auf einen Fortschritt der Demenz hin. Solche Daten im großen Stil zu sammeln und auszuwerten macht Sinn. Krankheitsverläufe können so besser analysiert und vorausgesagt, Präventionen proaktiv gesetzt werden.
Sinnvolles Big Data
Die Auxilio-Mannschaft plant daher in einer weiteren Ausbaustufe, Daten (anonymisiert) auszuwerten und miteinander zu vergleichen. Dadurch würde auch das eigene System immer besser, weil die Ergebnisse aus der Big-Data-Analyse dann wieder in das kleine Kasterl in der Wohnung zurückfließen und mit den individuellen Parametern des Betroffenen kombiniert werden sollen. Womit das Thema Künstliche Intelligenz angerissen wäre …
Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Erstens muss Auxilio dann das derzeit geschlossene System öffnen und die Daten in eine sichere Cloud und zurück transferieren. Ein markanter USP des Systems ginge damit verloren. Zudem steckt die ganze Branche noch eher in den Kinderschuhen, Auxilio selbst ist gerade mal in der ersten kleinen Finanzierungsrunde, die vier Testwohnungen ermöglichen soll. Auf Forschungsebene laufen relativ viele Projekte, großflächig sind aber noch kaum Systeme im Einsatz. Thomas Morgl, Betreiber vom betreuten Seniorenwohnen Silver Living: „AAL-Systeme sind eine großartige Idee – wenn sie einmal ausgereift sind, können Menschen tatsächlich länger in ihren eigenen vier Wänden wohnen bleiben. Das große Problem derzeit ist die Frage, wer den Betrieb zahlen soll. Der Investor oder Projektentwickler will das nicht übernehmen, ein Wohnungsbetreiber müsste es auf die Miete aufrechnen, und der Endnutzer will ebenso keine Zusatzbelastung. Außerdem fehlen meiner Meinung nach noch die Industriestandards. Dennoch: AAL wird in Zukunft eine große Rolle spielen.“Datensicherheit vs. Menschensicherheit
Bleibt der bittere Beigeschmack der Überwachungsangst und der Datensicherheit. Wie so oft bei modernen Technologien ist es ein Trade-off. Man gibt Daten her, geht ein Risiko ein, hat aber andererseits einen Nutzen. Den können alle nachvollziehen, die die Angst um betroffene Angehörige kennen: nicht zu wissen, ob es der Oma im 230 Kilometer entfernten Heimatort eh gut geht, obwohl sie nicht ans Telefon geht … Die Betagten sind dabei übrigens nicht gleich Überwachte: Die Qualität des Feedbacks, das Verwandte erhalten, lässt sich ja regeln. So kann das System etwa einfach „grün“ als Feedback geben, wenn grundsätzlich eh alles passt (auch wenn es ein paar kleine Zwischenfälle gab). Wenn sich zu viele heikle Ereignisse häufen, die für diesen individuellen Menschen sehr gefährlich scheinen, schreit es „rot“. Je besser die Eskalationspläne sind, je besser ein System wirklich intelligent dazulernt, desto genauer werden diese Rückmeldungen sein können.
ANDERE PROJEKTE
- WAALTeR – Wien
- ZentrAAL – Salzburg
- West-AAL – Tirol, Vorarlberg
- RegionAAL – Graz, Leibnitz, Deutschlandsberg
- Smart VitAALity – Klagenfurt, Villach, Ferlach
- gAALaxy – Nordtirol, Südtirol, Flandern
- Auf Initiative des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie wurde im April 2012 die Plattform AAL AUSTRIA gegründet – mit dem Ziel, die heterogene Stakeholder-Landschaft im Bereich von AAL zu vernetzen, um so den Auf- und Ausbau einer österreichischen AAL-Community und die Sichtbarkeit des Themas AAL auf allen Ebenen der öffentlichen Wahrnehmung zu fördern.