Die Wohnung passt auf

TREND Alternde Gesellschaft

AAL-Systeme können Bestandsimmobilien ohne bauliche Maßnahmen im Nu in altersgerechte Wohnungen verwandeln. Die Branche steckt trotz PropTech-Hype noch in den Kinderschuhen.

Wenn Opa in der Nacht öfters aufs Klo geht, ist das ganz normal. Wenn er alle 10 Minuten in der Toilette herum­geistert, könnte man sich Gedanken machen. Wenn er nicht am WC sitzt, sondern zusammengebrochen am Boden liegt, zählt vielleicht jede Minute, ja Sekunde.

Eskalationsszenarien nennen sich die wurzelartig verzweigten Entscheidungsbäume, die moderner AAL-Software zugrundeliegt. Die Abkürzung steht für Ambient Assisted Living, also Assistenzsysteme für ein möglichst umgebungsunterstütztes, gesundes und unabhängiges Leben. Vor allem Senioren und beeinträchtigten Menschen ­könnten solche Systeme in der Tat helfen, im Alltag ­(größtenteils) allein zurechtzukommen. „Unser System entwickeln wir für Menschen, die ins Alter kommen. Damit sie möglichst lange in ihrer eigenen Wohnung bleiben können, statten wir diese mit simplen Komponenten aus und verwandeln sie so in ein altersgerechtes Zuhause“, erzählt Marco Brunner vom deutsch-österreichischen Start-up Auxilio.

gefahren: Licht und Luft
„80 Prozent der Senioren-Unfälle zuhause sind auf ­mangelndes Licht oder fehlendes Lüften zurück­zu­führen“, zitiert Brunner ­Studien. Sein System bietet in der „Vollversion“ auch Lichtleitsysteme, ähnlich wie jene im Flugzeug, an. CO2-­Sensoren ­melden, wenn der Sauerstoffgehalt zu gering wird – weniger wegen dem in diesem Sommer populär gewordenen Thermen-­Abzugs-Problem, vielmehr, weil selten ­gelüftete Räume nicht gerade förderlich für einen schwachen Kreislauf sind.
Das Basispaket kostet bei Auxilio in der Anschaffung 700 Euro, die große Variante bis zu 1.800 Euro. Der Betrieb schlägt mit 29 bis 79 Euro monatlich zu Buche, je nach Größe und Komplexität des Systems. „Wir überlegen aber, wie bei Mobilfunkanbietern, die anfänglichen Hardwarekosten auf null zu reduzieren“, so Brunner. Wer die Betriebskosten übernimmt, ist derzeit ein ­großer Knackpunkt (siehe Haupttext).

Anders als bei vielen Modellprojekten stehe bei Auxilio aber nicht die Technologie im Vordergrund, betont Brunner; Senioren mit einem Tablet zu konfrontieren, hält er für einen Unsinn. Bei Auxilio werden einzelne Komponenten wie intelligente Steck­dosen, ­Infrarot- und Bewegungs­sensoren oder simple Lichtschalter, die dank Funktechnologie ja überall hingeklebt werden können, miteinander verknüpft. Es braucht kein Smartphone und kein Technologie­verständnis. Die Daten aus den Mess­komponenten treffen in einer handflächengroßen Zentrale zusammen und werden dort intelligent ausgewertet. Somit ist das System in seiner ­derzeitigen Version auch offline und trägt keine Daten in irgendwelche Clouds von Groß­konzernen. Kommt es zu einer wirklich kritischen Situation, schlägt es über eine SIM-Karte Alarm – etwa in Form von SMS an Angehörige oder Pfleger.

Lernende Systeme

Wann genau das ist, geben die oben erwähnten Eskalationspläne vor. Und hier liegt auch der Knackpunkt. Anfänglich werden alle Marotten des Betroffenen und das Feedback der Angehörigen eingearbeitet („Hat eine schwache Blase, muss oft auf die Toilette“). Somit weiß das System, was „normal“ ist. Umgekehrt gibt es klare Verhaltensmuster, die einen aufhorchen lassen, etwa wenn die Bestecklade tage­lang nicht geöffnet wurde, obwohl sie sonst 12 Mal täglich benutzt wurde. Oder: Sollte der alte Mensch drei Mal vergessen, den Herd abzuschalten, ist das aufgrund der extra installierten Abschaltautomatik kein Problem. Vergisst er es aber 20 Mal, weist das beispielsweise auf einen Fortschritt der Demenz hin. Solche Daten im großen Stil zu sammeln und auszuwerten macht Sinn. Krankheitsverläufe können so besser analysiert und vorausgesagt, Präventionen proaktiv gesetzt werden.

Markt
Im Jahr 2030 werden rund 35 % der Bevölkerung 65 Jahre oder älter sein, heißt es im Siebten Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland, 2017. Allein in Städten der DACH-Region wohnen 18 Millionen Menschen, die über 65 Jahre alt sind, Tendenz logischerweise stark steigend. Fast alle von ihnen (98 %) wollen in der eigenen Wohnung bleiben. Für Österreich rechnen Experten mit einer Verdreifachung der Pflegekosten bis 2050, auf 4,3 Milliarden Euro.

Sinnvolles Big Data

Die Auxilio-Mannschaft plant daher in einer weiteren Ausbaustufe, Daten (anonymisiert) auszuwerten und miteinander zu vergleichen. Dadurch würde auch das eigene System immer besser, weil die Ergebnisse aus der Big-Data-­Analyse dann wieder in das kleine Kasterl in der Wohnung zurückfließen und mit den individuellen Parametern des Betroffenen kombiniert werden sollen. Womit das Thema Künstliche Intelligenz angerissen wäre …

Um Gottes willen, nur nicht das Gewohnte verändern! Intelligente AAL-Systeme lassen sich in Bestandswohnungen integrieren.

Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Erstens muss Auxilio dann das derzeit geschlossene System öffnen und die Daten in eine sichere Cloud und zurück transferieren. Ein markanter USP des Systems ginge damit verloren. Zudem steckt die ganze Branche noch eher in den Kinderschuhen, Auxilio selbst ist gerade mal in der ersten kleinen Finanzierungsrunde, die vier Testwohnungen ermöglichen soll. Auf Forschungsebene laufen relativ viele Projekte, großflächig sind aber noch kaum Systeme im Einsatz. Thomas Morgl, ­Betreiber vom betreuten Seniorenwohnen Silver Living: „AAL-­Systeme sind eine großartige Idee – wenn sie einmal ausgereift sind, können Menschen tatsächlich länger in ihren eigenen vier Wänden wohnen bleiben. Das große Problem derzeit ist die Frage, wer den Betrieb zahlen soll. Der Investor oder Projektentwickler will das nicht übernehmen, ein Wohnungsbetreiber müsste es auf die Miete aufrechnen, und der Endnutzer will ebenso keine Zusatzbelastung. Außerdem fehlen meiner Meinung nach noch die Industrie­standards. Dennoch: AAL wird in Zukunft eine große Rolle spielen.“

Tolle Idee! Offen ist derzeit aber, wer diese Systeme letztlich zahlen soll.
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Datensicherheit vs. Menschensicherheit

Bleibt der bittere Beigeschmack der Überwachungsangst und der Datensicherheit. Wie so oft bei modernen Technologien ist es ein Trade-off. Man gibt Daten her, geht ein Risiko ein, hat aber andererseits einen Nutzen. Den können alle nachvollziehen, die die Angst um betroffene Angehörige kennen: nicht zu wissen, ob es der Oma im 230 Kilometer entfernten Heimatort eh gut geht, obwohl sie nicht ans Telefon geht … Die Betagten sind dabei übrigens nicht gleich Überwachte: Die Qualität des Feedbacks, das Verwandte erhalten, lässt sich ja regeln. So kann das System etwa einfach „grün“ als Feedback geben, wenn grundsätzlich eh alles passt (auch wenn es ein paar kleine Zwischenfälle gab). Wenn sich zu viele heikle Ereignisse häufen, die für diesen individuellen Menschen sehr gefährlich scheinen, schreit es „rot“. Je besser die Eskalationspläne sind, je besser ein System wirklich intelligent dazulernt, desto genauer werden diese Rückmeldungen sein können.

ANDERE PROJEKTE

auxilio-systems.com